Medizingeschichtlich


Auch im antiken Griechenland mit seiner moralischen Freizügigkeit war Sexualität durchaus kein tabuloses Thema. Dennoch gab es Vertreter des Kynismus, die das Ziel hatten, zum Naturzustand zurückzukehren, „den sie in tierischen und kindlichen Verhaltensweisen gegenüber der Kultur, dem Anerzogenen (Paidéia) sahen.“[4] Einer ihrer Vertreter, Diogenes von Sinope, galt als Meister der Provokation und sagte, als er sich öffentlich auf dem Marktplatz befriedigte: „Könnte man doch auch den Bauch ebenso reiben, um den Hunger loszuwerden“. Viele andere griechische Philosophen standen der Masturbation jedoch kritischer gegenüber als Diogenes.[4]

Ab dem späten Mittelalter wurde sie genauso wie alle anderen Formen der Sexualität, die nicht ausschließlich der Fortpflanzung dienten, von der römisch-katholischen Kirche als Sünde betrachtet und teilweise als widernatürliche Unzucht. In der 1768 eingeführten und bis 1787 gültigen Constitutio Criminalis Theresiana wird es im selben Paragrafen wie die anderen „Unkeuschheiten wider die Natur“ abgehandelt und es war mindestens eine angemessene Leibesstrafe vorgesehen. Über den späteren französischen König Ludwig XIII. (1601–1643) ist dagegen bekannt, dass dessen Leibarzt schrieb, Kindermädchen sollten zur „abendlichen Beruhigung“ Jungen im „Kitzeln des Penis“ unterweisen.

In der Aufklärung erfuhr sie eine Brandmarkung als „soziale Gefahr“ und „unnatürliches Verhalten“ jenseits der rein religiösen Verurteilung.

Im Jahr 1712 erschien in England das vermutlich von dem geschäftstüchtigen Quacksalber und Schriftsteller John Marten geschriebene und anonym veröffentlichte Pamphlet Onania: or, the Heinous Sin of Self-Pollution[5] („Onanie oder die abscheuliche Sünde der Selbstbeschmutzung“), das nach und nach in alle europäischen Sprachen übersetzt wurde und große Verbreitung erfuhr. Darin wurde behauptet, dass exzessive Masturbation vielfältige Krankheiten wie Pocken und Tuberkulose verursachen könne. Bezeichnend ist, dass John Marten gleichzeitig zahlreiche kleinere softpornografische Schriften veröffentlichte und in Onania eine von ihm erfundene „Medizin“ gegen die angeblich aus der Masturbation resultierenden Krankheiten anbot. Selbst die großen Aufklärer der Zeit glaubten dem anonym veröffentlichten Werk. Denis Diderot nahm die fragwürdigen Thesen unter dem Artikeltitel MANSTUPRATION ou MANUSTUPRATION[6] sogar in seine Encyclopédie auf.

Im 18. und 19. Jahrhundert fand in der Folge in ganz Europa geradezu ein „Feldzug gegen die Masturbation“ statt. Es erschienen unzählige wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Veröffentlichungen, die die angeblichen Gefahren der Masturbation anprangerten und Methoden zu ihrer Verhinderung anboten. Als Standardwerk kann die ab 1760 in unzähligen Auflagen verbreitete Schrift L'Onanisme. Dissertation sur les maladies produits par la masturbation[7] („Die Onanie. Abhandlung über Krankheiten durch Masturbation“) des Lausanner Arztes Simon-Auguste Tissot gelten.

Erst von jener Zeit an wurde die betreffende Bibelstelle über Onan nicht mehr als Coitus interruptus begriffen.

Falsche Vorstellungen kursierten über Jahrhunderte, dass „Selbstbefleckung” die gesunde geschlechtliche Entwicklung eines Knaben behindere und zur Gehirnerweichung und zum Rückenmarksschwund führe. Auch Krebs, Wahnsinn oder Lepra sollten angeblich die Folge der Masturbation sein. Erst nachdem Robert Koch 1882 den Tuberkelbazillus entdeckte, behaupten die Mediziner nicht mehr, dass Masturbieren Tuberkulose hervorrufe.

Neben gesundheitlichen Gefahren wurden auch moralische Argumente gegen die Masturbation vorgebracht: sie sei egoistisch, verleite zur Disziplinlosigkeit, stelle ein „nutzloses Vergnügen“ dar und wurde mitunter als „sexueller Missbrauch“[8] bezeichnet. Die Masturbation fördere die Abkapselung des Masturbators von der Gesellschaft, da er zu seiner sexuellen Befriedigung keinen Partner benötigt.

Sigmund Freud befasste sich eingehend mit der Masturbation als Ursache neurotischer Erkrankungen, insbesondere der Neurasthenie als sogenannter Aktualneurose. Kindliche Masturbation sah er je nach Stand seiner Theorieentwicklung als Ausdruck einer vorhergehenden Verführung des Kindes oder im Rahmen der Theorie der infantilen Sexualität als spontanes, entwicklungsbedingtes Geschehen an. Gelegentlich bezeichnete er die Masturbation als die Ursucht, an deren Stelle später andere, erwachsenentypische Süchte wie das Rauchen etwa träten. Als suchthaftes Verhalten aber spiele sie auch eine ungeheure Rolle im Verständnis der (als Psychoneurose beurteilten) Hysterie.[9] Die Frage der Schädlichkeit der Onanie war um 1912 Gegenstand einer Debatte der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung; Freud wendete sich resümierend gegen eine grundsätzliche Verharmlosung: In der Neurasthenie als direkte Folge, aber auch durch Verminderung der Potenz, Verweichlichung des Charakters durch Fixierung auf phantasierte Befriedigung statt realer Anstrengung und Stagnation der allgemeinen psychosexuellen Entwicklung disponiere die Selbstbefriedigung zur Neurose.[10]

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war der Glaube weit verbreitet, dass Akne durch Masturbation hervorgerufen werde. Die Hypothese konnte sich wohl deshalb so lange halten, weil Jugendliche in der Pubertät fast immer unter Akne leiden und gleichzeitig in der Pubertät auch häufig masturbieren (siehe auch Cum hoc ergo propter hoc). Bis in die 1980er Jahre wurde Masturbation auch in medizinischen Kreisen gelegentlich als unreife, im Erwachsenenalter als pathologische Form der Sexualität betrachtet.[11]





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